Auf der Suche nach intelligenten Konzepten für eine neue Mobilität
Am 18. Juli 2018 wurde im Berliner Abgeordnetenhaus das Mobilitätsgesetz beschlossen. Dieses schreibt Maßnahmen zum Ausbau des Fahrradverkehrs, sowie der öffentlichen Verkehrsmittel in der Verkehrsplanung Berlins vor. Ziel des Gesetzes ist die Erhöhung der Verkehrssicherheit in Berlin, vor allem die Sicherheit der schwächsten Verkehrsteilnehmer: der Fußgänger*innen und Radfahrer*innen.
Ganz im Sinne des Mobilitätsgesetzes trafen wir uns am 13.09.2018 im Kiezanker, um der Kreuzberger Initiative “Autofreier Wrangelkiez“ Raum und Möglichkeit zu geben, sich dem Podium und dem Publikum vorzustellen, und dabei das Konzept ihrer Initiative näher zu erläutern.
Das Podium war reich besetzt: neben Florian Fleischmann und Gabriela Stangenberg als Vertreter*in der Initiative, konnten wir David Hartmann aus der BVV Friedrichshain/Kreuzberg (Ausschuss Verkehr, Umwelt und Klimaschutz), Bernhard Knierim (Experte für Mobilität und Verkehrswende), Harald Moritz (MdA, verkehrspolitischer Sprecher Bündnis 90/Die Grünen) und Monika Herrmann (Bezirksbürgermeisterin Friedrichshain/Kreuzberg) für die Teilnahme an diesem Abend gewinnen. Auch die Publikumsplätze waren dicht besetzt – um die 80 Anwohner*innen und Interessierte nahmen die Gelegenheit wahr, sich über die Initiative zu informieren und mit uns gemeinsam neue Ideen für Mobilität zu erörtern.
Die Initiative eröffnete den Abend mit einer Vorstellung ihres Konzeptes. Dieses soll in 3 Phasen die Wrangelstraße zwischen Skalitzer und Taborstraße und den nördlichen Teil der Taborstraße nur noch für den Lieferverkehr zeitlich begrenzt freigeben, sowie die sechs kreuzenden Seitenstraßen (Lübbener-, Oppelner-, Falckenstein-, Cuvry-, südliche Taborstraße und ein Teil des Heckmannufers) in Fußgängerzonen, sogenannte Kiezwege, umwandeln. Dabei sollen alle Straßen weiterhin für Fahrräder und Roller (<10 km/h) befahrbar bleiben. Anhand einer projizierten Kiezkarte konnte der Plan bildhaft und verständlich dem Publikum vermittelt werden.
Zustimmung und Bedenken
Alle Podiumsteilnehmer begrüßten das Konzept und bedankten sich bei der Initiative für die Arbeit, welche in die Ausarbeitung dessen geflossen ist. “Hier liegt ein Konzept vor, welches radikal klingt. Aber nicht radikal ist, weil es in vielen anderen Städten schon längst so praktiziert wird.” eröffnete Monika Herrmann die Diskussionsrunde. Berlin ist tatsächlich eher ein Schlusslicht in Bezug auf seine Verkehrsstrategie, steuerte auch Herr Knierim bei, denn “diese autofreien Wohnviertel sind keine Utopie. Es gibt sie schon längst in anderen Städten.” Natürlich hat so ein Konzept erstmal einen Modellcharakter, so Knierim – es ist nicht in Stein gemeißelt, immer wieder wird es Notwendigkeiten geben nachzusteuern, und die Verkehrssituation den Bedürfnissen und Interessen der Betroffenen anzupassen.
“Berlin hat seit 30 Jahren nichts mehr an seiner Verkehrssituation verändert”, kommentierte Harald Moritz, “das letzte Mal als die Busspuren eingeführt wurden.” Die gegenwärtige Verkehrslenkung der Stadt arbeitet nach Unfallzahlen: erst wenn etwas passiert, wird eingegriffen und verändert. Dies gilt es zu durchbrechen und Initiative zu zeigen. “Autofreier Wrangelkiez” könnte dafür ein Startschuss sein.
Aus dem Publikum kamen Bedenken. Würde der Kiez durch eine Verkehrsberuhigung nicht noch mehr an Attraktivität und störendem Nacht- und Partyleben gewinnen? Könnte sich eine Aufwertung des öffentlichen Raumes nicht weiter auf schon steigende Preise für Gewerbe- und Wohnungsmieten auswirken und damit den Gentrifizierungsprozess vorantreiben? Würde fest angesiedeltes und verankertes Kleingewerbe im Kiez durch schlechtere Erreichbarkeit seine Kundschaft verlieren? Antworten wurden direkt aus dem Publikum gegeben: “nur weil man keine Gentrifizierung möchte, heißt es nicht, dass man sich sein Lebensumfeld nicht trotzdem schön und lebenswert gestalten kann.” Kleingewerbe hat von so einer Verkehrsberuhigung bisher immer profitiert, wusste Herr Knierim zu berichten. Denn Laufkundschaft verweilt und konsumiert häufiger in kleinen Läden, wenn diese in einem ruhigen und ansprechenden Umfeld eingebettet sind.
Zugewinn für alle Kiezbewohner
Die aktuellen Zustände auf den Straßen im Kiez sind nicht mehr trag- und tolerierbar. Darin war man sich einig. Autos parken in zweiter Reihe, Lieferverkehr drängt sich durch viel zu enge Straßen, Kinder können von zugeparkte Gehwegen aus nicht sicher die Straße überqueren. Veränderungen sind nötig. Monika Herrmann sprach über eine zeitnahe Parkraumbewirtschaftung, die in gesamt Friedrichshain/Kreuzberg angewandt werden soll. Vertreter*innen vom Wrangelkiezrat plädierten für realistische Lösungen, die zeitnah umgesetzt werden können, statt für eine langfristige komplett-Umstrukturierung.
Doch der Initiative sind diese “kleinen” Maßnahmen, wie Parkraumbewirtschaftung oder Bremsschwellen nicht genug. Sie hinterfragte die Bequemlichkeit und das Weltbild der Wrangelkiezbewohner*innen. “Sogar König Wusterhausen hat eine Fußgängerzone, und die Anwohner dort haben trotzdem nicht das Gefühl, in der dritten Welt zu leben”, stellte Florian Fleischmann fest. Welcher Weg zu ihrem Auto wäre für Bewohner*innen tolerabel? Diese Frage wurde in den Raum gestellt und löste eine nachdenkliche Stille aus. Gegenwärtig ist es schwierig Parkplätze im Kiez zu finden. Auch jetzt schon steht das Auto meist nicht vor der Haustür, sondern muss mühsam irgendwo untergebracht werden. Könnte ein Konzept mit festen Parklätzen außerhalb des Kiezes nicht allen Beteiligten entgegenkommen? Man muss zwar einen Weg zu seinem Parkplatz auf sich nehmen, aber man hat wenigstens einen gesicherten Parkplatz. Und vielleicht, so Harald Moritz, entscheidet man sich dann doch dafür, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen. Denn eine Studie hat gezeigt, wenn das Auto weiter weg steht, als die nächste Haltestelle, dann wird die Nutzung des ÖPNVs wieder stärker in Erwägung gezogen.
Lösungsideen für entstehende Konsequenzen
Als bisher ungelöstes Problem, wurde der Verdrängungseffekt in benachbarte Kieze genannt. Die wegfallenden Parkplätze im Wrangelkiez müssten kompensiert werden. Auf welchem Wege dies geschehen soll, bedarf noch einer intensiven Erörterung. Der Bau eines Parkhauses oder Abstellflächen in der Nähe des Görlitzer Parks wurde einstimmig abgelehnt. “Grundsätzlich ist es ein Anliegen der gesamten Verkehrsplanung, den Durchgangsverkehr aus allen Kiezen rauszuhalten”, so Monika Herrmann.
Bedenken, welche von Personen aus Pflegeberufen geäußert wurden, konnten relativiert werden. Sicherlich wird es Möglichkeiten geben, dass diese Berufsgruppen über Ausnahmegenehmigungen Zufahrt in den Kiez bekommen, so dass sie ihre Einsatzorte weiterhin Auto-mobil erreichen können. Die anvisierten Umstrukturierungen würden ihnen dafür eher entgegenkommen, da sie dann unproblematischer und garantiert freie Parkplätze in Patientennähe finden würden.
Harald Moritz warf die Idee ein, mit der BVG eine Art Kombiticket “Mobil-Spezial-Wrangelkiez” zu verhandeln, um für Anwohner*innen noch mehr Anreize zu setzen, vom Auto auf alternative Mobilitätsformen umzusteigen.
Ideen für eine Neuregelung des Verkehrs im Wrangelkiez gab es an diesem Abend viele. Sicherlich wurden auch kritische Stimmen laut. Doch was hat der Wrangelkiez zu verlieren – sein alltägliches Stressaufgebot an hoher Verkehrslast und rücksichtslosen Autofahrer? Darauf können und wollen die meisten Anwesenden verzichten, darin waren sich alle einig.