Auch unter den aktuellen Bedingungen einer Pandemie setzen wir unsere Arbeit fort. So habe ich gemeinsam mit meiner Kollegin Bettina Jarasch (MdA, Bündnis90/Die Grünen) am 16.04.2020 das dritte Fachgespräch aus der Reihe „Psychosoziale Versorgung von geflüchteten Kindern und ihren Familien“ als Video-Fachgespräch durchgeführt. Der Fokus lag diesmal auf „Kinderschutz in Gemeinschaftsunterkünften“.
Wir sprachen über dieses Thema mit Akteuren unterschiedlicher Hintergründe: Koordination Gemeinschaftsunterkünfte, Kinderschutzbeauftragte, Familienberatung, Verwaltung, Sozialarbeiter und medizinischer Bereich. So konnten wir ein breites Bild von Erfahrungen mit dem so wichtigen Thema aus den verschiedensten Blickrichtungen und Bezirken Berlins bekommen.
Natürlich flossen in das Gespräch immer wieder Aspekte der gegenwärtigen Situation unter den Bedingungen des Corona-Shutdowns und der aktuellen Kontaktsperren mit ein. Es gilt nun zu differenzieren, welche Ziele wir langfristig für den Kinderschutz in den Gemeinschaftseinrichtungen formulieren wollen, und welche Maßnahmen kurzfristig in den Einrichtungen zur Erleichterung der Situation in den Familien initiiert werden können.
Tabuthema Kinderschutz
Ein großes gegenwärtiges Problem stellt die Angst der Familien dar. Angst vor dem Virus, aber auch vor eventuellen Verstößen gegen Auflagen und damit zusammenhängende Strafen. Viele Familien gehen nicht raus und lassen auch ihre Kinder nicht nach draußen. Durch die beengte räumliche Situation potenzieren sich eventuell schon bestehende Problemlagen in den Familien, werden aber gleichzeitig auch nach draußen noch weniger sichtbar. Damit wird den Mitarbeiter*innen der Einrichtungen, des Jugendamts oder den Sozialarbeiter*innen der Familienberatung noch weniger Einblick in den psychischen und physischen Gesundheitszustand der Kinder ermöglicht, als dies schon unter „nicht-Corona-Bedingungen“ der Fall ist. Denn Kinderschutz ist ein Tabuthema. Prekäre Situationen in Familien, oder Erziehungsprobleme und Verhaltensauffälligkeiten werden meistens verschwiegen. Insbesondere geflüchtete Familien wollen nicht auffallen. Somit müssen Brücken geschaffen werden, mit denen Einblicke in die Familiensituationen und den Alltag der Kinder gewährleistet werden können.
Diese Brücken entstehen nur durch den direkten Kontakt. Telefonisch wird dieser zum Beispiel über SprInt ermöglicht (https://www.sprint-berlin.de/). Hierbei wird das Gespräch zwischen der Familie und der Vertrauensperson (Sozialarbeiter*in o.ä.) mithilfe eines/ einer Dolmetscher*in geführt. Diese Telefonschaltung ist aktuell kostenlos für den Gesundheitsbereich freigeschaltet. Die Forderung in unserem Fachgespräch war, dass diese Schaltung auch anderen Bereichen wie z.B. dem Jugendbereich kostenlos zur Verfügung stehen sollte. Denn Telefongespräche sind Beziehungsarbeit und haben aktuell einen hohen Stellenwert in der Kinderschutzarbeit. Sie werden aber hauptsächlich mit Familien geführt, zu denen bereits Beziehungen und Vertrauen bestehen. Die anwesenden Akteure berichteten uns von sehr engagierten Mitarbeiter*innen und lobten SprInt, da die Teilnahme von Dolmetscher*innen in den Telefonterminen sehr wertvoll und häufig unabdingbar ist. Das Ziel ist, unbedingt auch die Familien zu erreichen, die sich bisher noch nicht im Versorgungsnetz befinden. Dafür müssen kurzfristig Strategien entwickelt werden, wie z.B. das Verteilen von Flyern mit Hinweisen auf Unterstützungsangebote in verschiedenen Sprachen.
Allerdings gibt es auch positives zu berichten. Denn in Gesprächen mit den Familien kam auch heraus, dass durch die aktuelle Isolation viele Wege für die Anerkennung im Asylverfahren, Gänge zu Ämtern nicht gemacht werden können. Durch diese Entlastung konnte Ruhe in den Familienalltag einziehen. Insbesondere auch Väter können nun Zeit mit ihren Familien verbringen und haben die Möglichkeit für gemeinsame Spiele mit den Kindern.
Doch ob damit wirklich der größte Teil der Familien erreicht und die Situation der Kinder in den Unterkünften ausreichend dokumentiert wird, ist fraglich. Bisher steigen die gemeldeten Kinderschutzfälle nicht signifikant an. Aber wie hoch die Dunkelziffer ist, mag noch niemand prognostizieren
Kinderschutz ist Vertrauensarbeit – Mehr Personal für lückenlose Versorgung
Denn um eine flächendeckende Versorgung der Familien mit entsprechenden Angeboten der Sozialarbeit zu gewährleisten, braucht es ausreichend Ressourcen. Die mangelhafte Personalausstattung in den Jugendämtern und bei den Trägern stellt nun vor allem in der Krisensituation ein verschärftes Problem dar. Auf 300 Bewohner*innen in einer Unterkunft kommen 1,5 Sozialpädagog*innen-Stellen. Unter den Bedingungen einer Kontaktsperre müssen neue Strategien der Kommunikation und Angebote erst erarbeitet und angewandt werden. Damit sind Ressourcen schnell aufgebraucht. Und so formulieren alle Teilnehmer*innen der Gesprächsrunde die Aufstockung der personellen Mittel als ihr größtes Anliegen – auch über die Corona-Zeit hinaus.
Denn Arbeit im Bereich des Kinderschutzes beruht auf einem Vertrauensverhältnis, das zu Familien und ihren Kindern hergestellt werden muss. Dieses Vertrauen wird nur über Personalkonstanz erreicht. Dafür braucht es gute Arbeitsbedingungen und eine attraktive Bezahlung – nur so kann der gegenwärtigen Personalfluktuation und damit immer wieder zusammenbrechenden Vertrauensbeziehungen entgegengewirkt werden.
Hier ist die Politik gefragt zu handeln.
Themen, die wir mitnehmen sind:
- Wie kann die bisher gut funktionierende Sprachmittlung auch auf andere Bereiche ausgeweitet werden?
- Wie kann insbesondere in Corona-Zeiten die Beschulung der Kinder in den Gemeinschaftsunterkünften funktionieren?
- Wie können die Lockerungen der Eindämmungsverordnung, die am 21.04.2020 beschlossen werden, in die direkte Beziehung mit den geflüchteten Kindern und ihren Familien in den Gemeinschaftsunterkünften einfließen?
- Wie kann eine nachhaltige Vernetzung der geflüchteten Kinder mit ihren Familien mit der Nachbarschaft aussehen?
Wir müssen uns weiter engagieren – um in diesem Bereich Verbesserungen und damit Vertrauen und Transparenz zu erwirken. Familienarbeit ist Beziehungsarbeit. Und die Maßnahmen des Kinderschutzes sind Maßnahmen für unsere Gesellschaft und für unsere direkte Zukunft.
Ich danke allen Mitwirkenden für ihre Teilnahme!
Nachtrag, 4.5.2020:
Dank der Empfehlungen während des Fachgesprächs konnten wir unmittelbar einige Verbesserungen bewirken:
- So schreibt das LAF (Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten) nun alle Jugendämter mit dem Angebot der kostenfreien Nutzung des Sprachmittlungsservice des LAF an. Diese hat sich für die proaktive Kommunikation mit Familien in den Unterkünften bewährt.
- Weiterhin hat sich die wöchentliche Runde der bezirklichen Flüchtlingskoordinator*innen mit der Senatsverwaltung Integration/Arbeit/Soziales am Montag, 27.04.2020 mit dem Thema Kinderschutz und Sprachmittlung befasst. Die Flüchtlingskoordinator*innen werden sowohl die Unterkunftsbetreiber als auch Ehrenamtskoordination und BENN-Projekte in den Bezirken danach fragen, ob es weiteren Bedarf nach Sprachmittlung für die Arbeit mit Kindern und Familien in den Unterkünften gibt. Träger, die Bedarf haben, sollten daher schnellstmöglich auf die entsprechenden Stellen im Bezirk zugehen und Bedarf anmelden.
- Das Berliner Netzwerk für besonders Schutzbedürftige BNS, das gemeinsam mit dem Berliner “Zentrum Überleben” die psychosoziale Betreuung von Geflüchteten in der zentralen Quarantäne-Unterkunft übernommen hat, bietet auch in anderen Unterkünften psychosoziale Beratung an und macht bei Bedarf auch Vor Ort-Termine.