Am 04. Dezember 2019 lud ich zum Fachgespräch und zu einem offenen Austausch zu dem Thema „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ ins Abgeordnetenhaus von Berlin ein.
Auf dem Podium diskutierten mit vielfältiger Expertise Vertreter*innen vom Paritäter Berlin, Wildwasser e.V., Strohhalm e.V., Trau Dich e.V., vom Landesverband Schulpsychologie Berlin, Mitarbeiter*innen der Senatsverwaltung für Jugend, sowie Sozialarbeiterinnen der Sophie-Scholl-Schule Berlin. Die Moderation übernahm Wolfgang Schmidt – Mitglied der Beschwerdekommission der GRÜNEN Berlin. Dass der Einladung fast 40 Personen folgten, zeigt, dass das Thema weiterhin sehr aktuell ist.
Das Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat in breiten Teilen der Gesellschaft immer noch zu wenig Aufmerksamkeit. Kenntnisse und Informationen sollten zum Selbstverständnis von Familien und Institutionen gehören. Der größte Teil sexualisierter gewalttätiger Übergriffe gegen Kinder und Jugendlichen ereignet sich in deren sozialen Nahraum: in Familien, im Freundeskreis, in Vereinen. Sexuelle Übergriffe in der Kindheit können lebenslange negative Auswirkungen auf einen Menschen haben. Desto wichtiger ist es, dass Mitarbeiter*innen in den Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, dahingehend sensibilisiert und geschult sind. Denn hier ist die Schnittstelle und der Zugang zu den Familien und deren Umfeld. Von hier aus kann bei Hinweisen Vertrauen aufgebaut, entsprechende Unterstützung angeboten oder es können Notmaßnahmen eingeleitet werden.
Erschreckend ist die Tatsache, dass Mädchen bei angemeldetem Gesprächsbedarf, z.B. bei Wildwasser e.V. auf Grund von Mangel an Kapazitäten teilweise bis zu zwei Wochen auf eine Erstberatung warten müssen. Dieser Zustand muss über eine weitere Anpassung der zur Verfügung stehenden Ressourcen weiter ausgebaut werden. In den vergangenen Haushaltsjahren habe ich mich jeweils erfolgreich für eine Steigerung der finanziellen Mittel eingesetzt, auch wenn dies noch nicht den tatsächlichen Bedarfen entspricht.
Es besteht Einigkeit darüber, dass „sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige“ bei einem großen Teilen der Männer immer noch kein wichtiges Thema ist. Um das zu verändern, braucht es gezielte öffentliche Kampagnen und Aufklärung. Empörung erst bei Krisenfällen aufkommen zu lassen, hilft nicht. Prävention und Aufklärungsarbeit muss auch hier viel früher beginnen.
Vernetzung als Grundlage für eine Qualitätssteigerung bei Prävention und Hilfsangeboten
Auf vielen Ebenen gibt es Vernetzungsstrukturen – diese gilt es auszubauen. Seit vielen Jahren arbeitet das Netzwerk Kinderschutz sehr erfolgreich. In den Netzwerken sollen alle Akteur*innen an einen Tisch geholt werden. Dazu wurde u.a. die Integrierte Maßnahmenplanung (IM) ins Leben gerufen und ihr Ausbau im Koalitionsvertrag einbezogen. Der Paritäter fordert nun uns politisch Verantwortlichen auf, uns – im Sinne der Vernetzung – für die Fortführung der Geschäftsstelle der IM einzusetzen. Auch die Polizei hat hieran ein starkes Interesse. Dies greifen wir in unseren politischen Entscheidungen als ein dringliches Thema auf und führen es weiter.
Welche Angebote gibt es aktuell in Berlin für Betroffene sexualisierter Gewalt in der Kindheit? Welche Reichweite haben diese Angebote und gibt es sie in hinreichender Größenordnung?
Prävention – „Mein Körper gehört mir!“
Prävention ist bei dem Thema sexualisierte Gewalt gegen Heranwachsende ein unerlässlicher Baustein. Sie ist eine Pflicht und muss deshalb stärker in das Bewusstsein aller gerückt werden.
Prävention ist Erwachsenenaufgabe. Daher richtet sich das Angebot von Strohhalm e.V. primär an Eltern und pädagogische Fachkräfte. Schwierig ist, dass Prävention selbst in den Studiengängen der Sozialpädagogik bisher optional ist und Fortbildungen in diesem Bereich von Arbeitnehmer*innen teilweise in der Freizeit absolviert werden, weil die Stunden dafür von den Arbeitgeber*innen nicht angerechnet werden.
Alle Beteiligten der Veranstaltung waren sich einig, dass Prävention die grundlegende Maßnahme gegen sexuelle Gewalt ist. Dabei liegt der Fokus der Präventionsarbeit darauf, die Kinder zu stärken, damit sie ihre Grenzen kennen, ausdrücken und sich Hilfe holen können. Jedoch ist ausreichende Präventionsarbeit häufig eine Frage der Ressourcen.
Umsetzung an der Schule
Schulen z.B. haben oft kaum oder gar kein Geld für ausreichende Präventionsmaßnahmen. Die Erstellung eines zielgenauen und individuellen Konzepts kostet pro Schule 3.300 Euro, welche in den meisten Fällen nicht vorhanden sind. Dabei ist die Nachfrage nach Präventionsarbeit an den Schulen so enorm, dass Wildwasser und Tauwetter diese nicht mehr decken können. Aktuell laufen deshalb Verhandlungen für einen Stellenaufwuchs.
Interessant ist dabei aber auch die Fragestellung, wie sich die Schulen in dem Bereich strukturieren. Um ein erfolgreiches Beispiel dafür vorzustellen, hatten wir zwei Sozialarbeiter*innen der Sophie-Scholl-Schule zum Fachgespräch eingeladen. Diese berichteten uns von den Maßnahmen an ihrer Schule. So wird z.B. jede Klasse nicht von einem/einer einzelnen Lehrer*in geleitet, sondern von einem Klassenleitungsteam, bestehend aus zwei Lehrer*innen und einer/einem Sozialarbeiter*in. Alle drei sind bei konkreten Vorfällen die Anlaufstelle. Im weiteren Verlauf wird dann die Schulleitung informiert und das Vorgehen konkret gemeinsam besprochen. Auch Vorfälle innerhalb der Familie können in diesem schulischen Kontext thematisiert werden. Außerdem hat sich seit 10 Jahren ein stetig wachsendes Präventionsangebot für Schüler*innen in Zusammenarbeit mit Wildwasser e.V. und Strohhalm an der Schule etabliert. Diese Präventionsangebote sind verpflichtend für die Klassen 7 und 8 und werden in Form von Workshops für Schüler*innen in den Beratungsstellen durchgeführt. Die Resonanz darauf ist bei den Schüler*innen sehr positiv. Jedoch wird auf den vorbereitenden Elternabenden sichtbar, dass Eltern zum Teil noch viele Vorbehalte haben, die entsprechenden Elternabende aber dennoch zu wenig Resonanz erfahren.
Grundsätzlich ist es ein Anliegen, das gesamte schulische Personal in Berlin für das Thema der sexualisierten Gewalt zu sensibilisieren und alle Schulleiter*innen so zu schulen, dass sie bei einem Vorfall, die richtigen Hilfsmechanismen in Gang zu setzen wissen. Dabei kann es die Aufgabe von Schulpsycholog*innen sein, die Prozesse innerhalb der Schulen zu evaluieren und Vorschläge zur Optimierung dieser zu machen.
Die Tatsache, dass von den ca. 800 Berliner Schulen derzeit lediglich 20 Schulen mit tragfähigen, individualisierten Schutzkonzepten ausgestattet sind, ist ein unhaltbarer Zustand. Das ist deutlich zu wenig! Es ist zu befürchten, dass auch das Geld, das nun für diesen Bereich im Haushalt steht, den Effekt verstärkt, dass sich weiterhin die interessierten und engagierten Schulen melden – die, die schon längst im Kinderschutz aktiv tätig sind. Diese wiederum könnten auch als Multiplikatoren fungieren.
Schutzkonzepte in Schulen sind also ein dringendes Thema. Fraglich bleibt, wie hier Kapazitäten aufgestockt werden können, um die Schulen besser zu unterstützen. Es müssen deutlich mehr und effizientere Maßnahmen ergriffen werden. Und auch das Schulgesetz sollte das Thema Schutzkonzepte mitberücksichtigen. Dies ist gegenwärtig eine Lücke. Schulen müssen das Thema auf die Tagesordnung bringen. Jede einzelne Schule muss in die Lage versetzt werden, individualisierte Schutzkonzepte umzusetzen.
Auch die Förderung von Medienkompetenz an den Schulen spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle und bedarf eines weiteren Ausbaus. Einerseits um Cybermobbing entgegenzuwirken. Aber auch um Eltern verstärkt in die Verantwortung für die Bewegung ihrer Kinder im Internet zu ziehen. Diese gelangen z.B. oft zu leicht und ungefiltert an Pornografie und der Gewalt im Netz, weil die Eltern den Zugang ungesteuert ermöglichen.
Im Rahmen des Lehrer*innen-Bildungsgesetzes kann das Land seine Einflussmöglichkeiten im Bereich der Prävention und Medienkompetenz ausüben. Gleiches gilt aber auch für die Erzieher*innen-Ausbildung. Denn Präventionsmaßnahmen im Bereich der sexualisierten Gewalt müssen schon von frühester Kindheit an beginnen.
Präventionsarbeit in der Kita
Die Zahl der von sexueller Gewalt betroffenen Kinder unter sechs Jahren ist erschreckend. Umso jünger und/ oder schutzbedürftiger die Kinder, umso stärker müssen ihre Eltern/ Erziehungsverantwortlichen in die Präventionsarbeit mit einbezogen werden.
Damit Missbrauchsfälle richtig angesprochen und verbalisiert werden können, müssen Kinder das korrekte Vokabular für ihre Körperteile vermittelt bekommen. Nur wenn Kinder in der Lage sind, z.B. eine Scheide als solche zu benennen, können sie Vorfälle konkret mitteilen. Ziel ist es weiterhin, dass alle Menschen, die mit Kindern arbeiten oder leben, hinreichend für das Thema der sexualisierten Gewalt sensibilisiert sind. Und dass Erwachsene reflektieren, wie mit eigenen Werten umgegangen wird, und welche Muster und Umgangsformen Heranwachsenden vorgelebt werden.
Auch kleine Kinder können lernen, ihre Grenzen zu spüren und die Einhaltung dieser zu fordern. Sie können aber auch schon für den Respekt gegenüber der Grenzen anderer sensibilisiert werden. Eine Verantwortung der Prävention gegen körperliche und seelische Übergriffe müssen alle Beteiligten damit schon ab dem Zeitpunkt der Geburt eines Kindes übernehmen.
Kinderschutzkonzepte, wie sie gesetzlich vorgeschrieben und sinnvoll sind, werden in Kitas und Schulen oft noch im copy-paste-Verfahren zur Genehmigungsvorlage übernommen und dann in einem Aktenordner im Schrank abgelegt, berichtet Wolfgang Schmidt. Dabei ist es von enormer Tragweite, dass in den Einrichtungen erarbeitete Schutzkonzepte mit Leben erfüllt werden und den einzelnen Fachkräften bekannt sind. In der täglichen Arbeit sind sie gelebte Prävention mit den Kindern und Erwachsenen. Schulungen, Informationen und Projekte müssen dokumentiert und frei zugänglich sein.
Schutzkonzepte für Geflüchtetenunterkünfte, im Bereich der Obdachlosigkeit und in Einrichtungen der Jugendhilfe
In den SOS-Kinderdörfern Deutschlands ist nach eigenen Aussagen das Thema in allen Einrichtungen auf der Tagesordnung. Es besteht dazu ein laufendes Fortbildungsangebot und Reflektionszeiten in den Teamsitzungen.
Kinder mit Behinderungen und/ oder anderen Sprach- und kulturellen Hintergründen sind einer erhöhten Gefahr, Opfer von sexueller Gewalt zu werden, ausgesetzt. Deshalb ist es wichtig, Fachkräfte, die mit diesen Personengruppen arbeiten, verstärkt zu schulen. Weiterhin werden, um diesem Umstand gerecht zu werden, z.B. bei Wildwasser e.V. zunehmend Mitarbeiter*innen eingestellt, die mehrere Sprachen sprechen. Auch die Zusammenarbeit mit vertrauenswürdigen Dolmetscher*innen wird ausgebaut. Strohhalm e.V. bemüht sich ebenfalls darum, im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten integrativ zu arbeiten.
Die Rolle der Politik ist, das Thema der sexualisierten Gewalt immer wieder auf die Tagesordnung zu setzen und so regelmäßig in den Blick der Öffentlichkeit zu rücken. Nicht erst und nur in Zeiten schlimmer sexualisierter Gewaltverbrechen an Kindern und Jugendlichen!
Die Rolle der SIBUZ
Das SIBUZ – Schulpsychologische und Inklusionspädagogische Beratungs- und Unterstützungszentren – gibt es seit 2015 13 mal in Berlin: in jedem Bezirk eins, plus eins für die beruflichen und zentral verwalteten Schulen. Hier arbeiten Fachkräfte, die unter anderem auf das Thema „Gewalt und Krise“ spezialisiert sind. In den Bereich sexualisierte Gewalt wird häufig auch die Polizei eingebunden.
Das Krisenteam des SIBUZ versucht, sich von dem Phänomen, die Aufmerksamkeit auf den Täter oder die Täterin zu legen, zu lösen, und sich stattdessen mehr für die Betroffenen der sexualisierten Übergriffe zu engagieren. In der Praxis steht die Nachsorge häufig im Vordergrund. Erst der Vorfall- der offenkundig gewordene Übergriff – führt möglicherweise zum Handeln. Vorsorge steht oft erst als Reflexreaktion auf einen konkreten Vorfall am Ende der Handlungsreihe. Im Interesse der Reihenfolge „Vorsorge-Fürsorge-Nachsorge“ sollte dies dringend geändert werden.
Fazit
Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt hat in der Politik auch heute noch zu wenig Bedeutung. Träger und Initiativen wollen dringend mehr Lobbyarbeit in den Fraktionen machen. Es ist wichtig, den Prozess, das Netzwerk und die Integrierte Maßnahmenplanung, wie in der Koalitionsvereinbarung beschlossen, zu fördern. Der aktuelle Stand muss reflektiert werden, um so Rückschlüsse für das weitere Vorgehen, für den Aufbau und die Finanzierung des Netzwerkes, ziehen zu können.
Die bestehenden Vereine und Verbände, die aktiv Maßnahmen der Präventions- und Aufklärungsarbeit leisten, sollen mit mehr Ressourcen ausgestattet werden. Damit können und müssen die Kapazitäten geschaffen werden, die unsere wachsende Stadt in diesem Bereich erfordert.
Das Tabuthema “sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche” müssen wir aktiv in den Fokus der Öffentlichkeit bringen. Aufklärungs- und Präventionsmaßnahmen müssen mutig vorgestellt und in den gesellschaftlichen Konsens eingeführt werden.
Dem Thema der Prävention gegen sexuellen Missbrauch soll deshalb auch ein bedeutender Raum im zu beschließenden Berliner Familienfördergesetz eingeräumt werden. Wir als Fraktion werden uns mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln dafür einsetzen.
Ich danke allen Anwesenden und Beteiligten für dieses informative, lebendige und konstruktive Fachgespräch!