In der Fachzeitschrift Kindschaftsrecht und Jugendhilfe hat in einer der letzten Ausgaben der Lüneburger Strafrechtler Peter Bringewat eine Artikel veröffentlicht (ZKJ 09/2012, S. 330-336), in dem dieser die These vertritt, dass der Bundesgesetzgeber mit der Neufassung des § 8a SGB VIII möglicherweise ungewollt eine Regelung geschaffen hat, die sich als “änderungsgesetzlicher Kronzeuge” einer zumindest partiellen Abweichung des kinder- und jugendhilfrechtlichen Gefährdungsbegriffes vom “traditionellen” Kindeswohlgefährdungsbegriffs des Familienrecht nach § 1666 BGB erweisen könne. Zwar ist dies wohl eher eine Mindermeinung, andererseits wird hier aber sehr ausführlich und überzeugend die strafrechtliche Dimension bei fahrlässig fehlerbehafteten oder gar gänzlich unterbliebenen Facheinschätzungen beleuchtet. Dies ist angesichts der immer wieder auftretenden Vorwürfe gegen Sozialarbeiter_innen in der Kinder- und Jugendhilfe, wenn wieder ein Kind zu Schaden gekommen ist, also nicht irrelevant. Auf den ersten Blick mögen die Rechtsausführungen des Strafrechtlers nur für Rechts- oder Kinderschutzexperten interessant sein, vor dem Hintergrund mangelnder Ressourcenausstattung der Kinder- und Jugendhilfe lässt sich eine politische Dimension jedoch nicht von der Hand weisen.
Bringewat schreibt, dass der Gesetzgeber mit der Neuformulierung des § 8a SGB VIII (ungewollt) einen ersten Schritt zu einem eigenen kinder- und jugendhilferechtlichen Gefährdungsbegriff getan hätte. Gestützt wird diese These mit dem Begriff der “Gefährdungseinschätzung”, die im neuen § 8a Abs.4 SGB VIII zu finden ist, im § 8a Abs. 2 SGB VIII a.F. hingegen war noch von einer “Abschätzung des Gefährdungsrisikos” die Rede. Der wohl führende Kommentator des SGB VIII, Reinhard Wiesner, merkte hingegen schon vor einem Jahr etwas lakonisch an, dass im Unterschied zum Gesetzeswortlaut in den Fachkommentaren schon der Begriff “Gefährdungseinschätzung” verwendet wird und der Gesetzeswortlaut sollte bei “nächster Gelegenheit nachgebessert werden” (Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl., § 8a, Rn. 13). Dies ist wohl die überwiegende Auffassung in der Fachwelt und die These Bringewats soll hier daher auch nicht weiter diskutiert werden.
Interessant sind jedoch seine Ausführungen zur strafrechtlichen Dimension des Schutzauftrages. So beschränkt sich ein strafrechtlich relevantes Verhalten bei kinder- und jugendhilferechtlichen Fallkonstellationen nahezu immer “nur” auf den Vorwurf der Fahrlässigkeit. Im Regelfall wird ein solcher strafrechtlicher Fahrlässigkeitsvorwurf dann erhoben, wenn nach “durchschnittlich” anzuwendenden Sorgfaltsmaßstäben ein Sorgfaltsmangel vorliegt. Nun verfügen Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe natürlich über ein “fachliches Sonderwissen”, was naturgemäß zu einer Verschärfung des Maßstabs führen muss. Bei dem hier anzulegenden Sorgfaltsmaßstab handelt es sich also um einen generalisierenden Durchschnittsmaßstab der standardisierten Sonderfähigkeiten. Diese sind jedoch nicht identisch mit den fachlichen Standards, da die Zielrichtung “professioneller Fachlichkeit” nicht wie beim strafrechtlichen Fahrlässigkeitsvorwurf primär in der Abwehr strafrechtlich geschützter Rechtsgüter besteht. Fachliche Standards können somit der Konkretisierung strafrechtlich relevanter “Sonderfähigkeiten” dienen, ohne dass der Umkehrschluss zulässig wäre. Der strafrechtliche Rechtsgüterschutz darf sich niemals durch Fachlichkeit eines Handelns relativieren lassen.
Für die professionelle Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe bedeutet dies, dass bei der Gefährdungseinschätzung 4 mögliche Fehlerquellen eine Rolle spielen (können):
- fehlerhafte Handhabung gewichtiger Anhaltspunkte,
- Nichteinleitung des Verfahrens der Gefährdungseinschätzung
- fehlerhafte Aufklärung des Einschätzungssachverhalts
- fehlerhafte Besetzung des zusammenwirkenden Fachkollegiums.
Alle 4 Punkte lassen sich mehr oder weniger direkt aus dem Gesetz – konkret dem neuen § 8a SGB VIII – ableiten. Politisch interessant dürfte vor allem die 4. Fehlerquelle sein. Die gesetzgeberische Intention besteht erkennbar darin, dass die zur Gefährdungseinschätzung berufenen Fachkollegien über eine spezifische Einschätzungskompetenz verfügen und sich die gefährdungsindizierenden Umstände in diesen Kompetenzen auch widerspiegeln müssen. Zudem fordert der § 8a Abs. 4 Nr. 2 SGB VIII, dass “bei der Gefährdungseinschätzung eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzugezogen wird“. Es ist alles andere als sichergestellt, dass die Jugendämter über die entsprechenden internen Personalressourcen verfügen, um ein solches Kollegium wirklich fehlerfrei zu besetzen. Sollte die interne Kompetenz nicht ausreichen, müssen je nach Einzelfall externe Expert_innen hinzugezogen werden. Die hier vom Gesetz geforderte Fachkompetenz ist nicht etwa schon dann gegeben, wenn die betreffende Person im Kinderschutz erfahren ist. Fantasievolle Zertifizierungen vieler (privater) Anbieter, bloße Bezeichnungen als “Kinderschutzfachkraft” beweisen noch lange keine fachlich-methodologischen Einschätzungskompetenzen, die je nach Gefährdungslagen etwa Kinderärzt_innen, Psycholog_innen, Lehrer_innen et c. aufweisen. Mitarbeiter_innen vom ASD etwa haben diese spezifischen Kompetenzen per se noch nicht deshalb, weil sie aufgrund ihrer Berufsrolle mit Gefährdungslagen von Kindern und Jugendlichen konfrontiert sind.
Bei Gefährdungslagen wäre ein Verstoß gegen diese Besetzungsregeln nicht nur aus fachlicher Sicht unverzeihlich, sondern könnte auch einen strafrechtlich relevanten Fahrlässigkeitsvorwurf begründen. Vor diesem Hintergrund ist der immer höhere Kostendruck auf die Kinder- und Jugendhilfe, der immer größer werdende Personalmangel in den Jugendämtern geradezu unverantwortlich! Die Politik muss hier vielmehr alles tun, um der öffentlichen und freien Kinder-/Jugendhilfe bei der fachgerechten Erfüllung ihrer Aufgabe zur Seite zu stehen!