Interview: Kinderarmut in Berlin

Soziale Gerechtigkeit war im Mittelpunkt des Berliner Abgeordnetenhauswahlkampfes 2016. Eine Facette davon ist, dass diese Stadt endlich den Kampf gegen Armut angehen muss. Besonders Kinderarmut ist in Berlin ein zunehmend gravierendes Problem. Was bedeutet Kinderarmut und was müssen wir in Berlin dagegen tun. Darüber habe ich mit Simone Bischof von der EU-Infothek gesprochen.

 

Bewerten Sie Berlin ans sich als kinderfreundliche Stadt oder ist die Kinderfreundlichkeit sogar am Kippen?
Schwierige Frage. Ich würde sagen, sowohl als auch. Die Stadt ist in einigen Bereichen sehr kinderfreundlich. Zum Beispiel was die Vereinbarung von Familie und Beruf angeht. Trotzdem haben wir das Problem, dass man mit der Schaffung von neuen Kita- oder auch Schulplätzen nicht hinterherkommt. Auch, weil es einen massiven Zuwachs von Kindern gibt. Das sind Kinder von Geflüchteten, aber auch Zuziehende. Und in einigen Stadtteilen kann man sogar von Geburtenexplosionen reden. Aktuell besteht ein Bedarf von 30.000 zusätzlichen Kita-Plätzen. Eine große Herausforderung ist auch, was bezahlbaren Wohnraum für Familien angeht. Wir haben eine ganz hohe Zahl von Familien, die wohnungslos sind. Im Grunde genommen ist das die Spitze des Eisbergs, was das Thema Kinderarmut angeht.

Hat die Berliner Politik das Thema Kinderarmut nicht im Fokus?
In dieser Legislaturperiode haben wir dieses Thema überhaupt zum ersten Mal diskutiert. Mit anderen Kollegen von der Opposition habe ich es schon vor zweieinhalb Jahren ins Gespräch gebracht. Was die Landesebene und die Regierungsfraktion angeht war bislang überhaupt keine Sensibilität dafür da. Kinder werden immer nur im Anhang etwa von wohnungslosen Frauen betrachtet. Gemeinsam mit der Landesarmutskonferenz wurde das Thema noch einmal diskutiert. Träger haben uns berichtet, dass wohnungslose Familien teilweise mit Klientel untergebracht waren, die in keiner Weise als kindeswohldienlich angesehen werden kann. Es gibt jetzt erste Ansätze, betroffene Familien besser aufzustellen. Die ganzen Strukturen, die Berlin einmal hatte, sind in den letzten Jahrzehnten abgebaut worden. Erstens, weil man davon ausging, dass es einen sehr entspannten Wohnungsmarkt gibt. Zweitens, weil diese Problematik der Kinderarmut gar nicht so sehr bestand. Es sind auch Strukturen weggebrochen, die jetzt mühsam wieder aufgebaut werden. Insbesondere was das Thema Kinderarmut angeht gibt es im Land Berlin keine Armuts- und Sozialberichterstattung, wie von der Landesarmutskonferenz schon seit vielen Jahren gefordert. Die Grünen haben ein sehr breites Armutskonzept entwickelt, das alle Bereiche abdeckt, in denen Menschen von Armut betroffen sind. Darin aufgenommen ist auch die Notwendigkeit eines solchen Berichtes, um erfassen zu können, wie viele Menschen in Berlin wohnungslos sind und auf der Straße leben.

Mit welcher Begründung wurde der Armutsbericht bislang abgelehnt?
Damit, dass es Zahlen und Statistiken gibt. Die sind aber nicht zusammengezogen. Es gibt den Sozialstrukturatlas mit Handlungsempfehlungen. Daher kommt auch die Forderung nach dem Kinderarmutskonzept. Kinderarmut ist auch Familienarmut. Wir brauchen aber noch mal einen kindzentrierten Blick, um Ursachen entgegenzusteuern, die Chancen am Anfang des Lebens ausbremsen. Ich werde jetzt nicht sagen, wir werden die Kinderarmut aus der Stadt vertreiben. Berlin steht mit Bremen ganz vorne. Doch nicht bei jedem Kind, das in Armut lebt, sind die Eltern nicht in der Lage, ihre Kinder zu erziehen und zu versorgen und auch auf einen guten Weg zu bringen. Aber es gibt einen Teil, der das nicht schafft. Alleinerziehende sind eine Gruppe, bei der man besonders hinguckt, weil hier die Lasten immer noch mehr raufgepackt werden. Oder Familien, die über Generationen immer in Transferleistungsabhängigkeit leben.

Zählen hierzu auch Kinder, die sich von ihren Familien losgesagt haben und auf der Straße leben?
Das ist sicherlich ein Teil davon. Es hat ja Ursachen, warum 12-, 13- oder 14-Jährige nicht mehr zu Hause leben wollen. Die dann aber auch nicht den Weg in die Hilfesysteme schaffen und auf der Straße landen – mit allen Risiken. Es ist eine große Herausforderung, über die Straßensozialarbeit einen Zugang zu ihnen aufzubauen. In Berlin haben wir auch eine Armutszuwanderung aus dem so genannten deutschen Umfeld, aber auch aus europäischen Ländern oder Flüchtlinge, die in der Illegalität leben. Es kommt alles zusammen, das ist typisch für eine Großstadt. Und auch hier geht es wieder um das Thema Wohnungslosigkeit. Verschiedene Träger versuchen, gegenzusteuern, fühlen sich vonseiten der Politik aber oft alleine gelassen.

Das heißt, wenn der Armutsbericht jetzt nicht kommt, könnte der Überblick komplett verlorengehen?
Der ist ja gar nicht da. Den Überblick, wie die Situation tatsächlich aussieht, gibt es wohl für einzelne Bereiche. Aber nicht den Gesamtblick darauf. Wir haben auch keinen Jugendbericht, wie es per Gesetz gefordert ist. Den letzten Bericht dazu gab es wohl in den 90er Jahren. Da fehlen die Ressourcen, der Wille, das Wissen. Im Grunde genommen macht jeder Bezirk eine Jugendhilfeplanung und hat auch Zahlen, wie die Situation der jungen Menschen aussieht. Aber eine Zusammenfassung, um ein realistisches Bild über die Situation von Kindern, Jugendlichen und Familien zu bekommen, fehlt.

Fünf Berliner Bezirke haben Rückmeldung darüber gegeben, wie viele Kinder und Jugendliche jeweils auf der Straße leben. Warum verdonnert man nicht die übrigen Bezirke, diese Zahlen zu liefern?
Die Zahlen müssten die Bezirke haben. Ich weiß, dass die Bürgermeisterin von Neukölln, Franziska Giffey, auf einer Veranstaltung der Arbeiterwohlfahrt sagte, dass allein in ihrem Bezirk tausend Kinder und Jugendliche im Obdach leben. Und das sind nur die, die erfasst sind. Sicherlich kann man Neukölln nicht für jeden Bezirk in Berlin hochrechnen. Aber es sind schon mehrere tausend Kinder und Jugendliche. Plus die, die in den Turnhallen leben. Dort ist der gleiche Standard anzusetzen. Die UN-Sonderrechtskonvention unterscheidet da nicht.

Wann gilt ein Kind als arm?
Das Kind hängt immer an der Aktivität von einem Erwachsenen. Kinder haben grundsätzlich Unterhaltsansprüche, wenn sie kein Einkommen haben. Einmal gegen den Elternteil bei dem sie leben, wenn es sich um Alleinerziehende handelt. Die Betreuungsperson sichert ein Stück weit den Lebensunterhalt. Und dann eben gegen den anderen Elternteil. Ist ein Elternteil leistungsunfähig oder nicht auffindbar, gibt es bis zum zwölften Lebensjahr die Möglichkeit von Unterhaltsvorschussleistungen und sie können ALG II beziehen. Bis jemand 15 ist, ist er von der Arbeitspflicht ausgenommen. Danach läuft es weiter, solange die Jugendlichen noch zur Schule gehen. Aber es ist immer ein Existenzminimum.

Können Sie eine Summe nennen? Wie viel Geld braucht ein Kind pro Monat?
Brauchen und bekommen, dazwischen liegt ja ein Unterschied. Ich weiß nicht, wie hoch der aktuelle Hartz IV-Satz für Kinder ist. Vielleicht sind es jetzt 300 Euro. Dazu kommt ein Mietzuschussteil. Wenn man den nicht bekommt, kann man Wohngeld beantragen. Es gibt auch ein Schüler-Bafög, das Jugendliche beantragen können. Bei behinderten Kindern können zusätzliche Leistungen beantragt werden. Kinder und Jugendliche, die in Pflegefamilien oder in Jugendhilfeeinrichtungen leben, bekommen über das SGB VIII Hilfe.

Wo muss akut etwas passieren?
Das Thema Wohnen ist etwas, wo man auf jeden Fall handeln muss. Es kann nicht sein, dass Kinder im Obdach leben. Wohnen ist existenziell. Da kann man ALG II bekommen, aber wenn jemand bei der Schufa fünf Einträge hat, findet er keine Wohnung. Und die städtischen Wohnungsbaugesellschaften nehmen die Leute auch nicht.

Gibt es keine Möglichkeit, Verhandlungen zu treffen?
Das wird versucht. Aber wenn es keinen Wohnraum gibt, kann man da auch nichts machen. Selbst in den Gegenden, wo es immer Leerstand gab, gibt es keinen mehr. Das Land Berlin hat da keine Vorsorge getroffen. Wie bei der gesamten Wohnungssituation wurde auch da viel zu spät der Blick auf das Thema gelenkt. Es gab ein paar leise Stimmen von Trägern vor Ort, aber das hat nicht ausgereicht. Das Land Berlin hat kaum noch eigene Flächen, weil die Bezirke gezwungen wurden, Einrichtungen, die sie nicht genutzt haben, in den Liegenschaftsfond zu geben und die dann verkauft wurden. Natürlich auch vor dem Hintergrund des Bankenskandals. Alles, was an Tafelsilber da war, wurde verkauft. Kitas, Schulen und andere Einrichtungen wurden, auch mit Steuergeldern, abgerissen. In manchen Schulen sind jetzt auch Eigentumswohnungen drin.

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